Marion Strencioch
2. Preis - Kategorie: Erwachsene
Tarja
Seit Wochen liegen auf einer Wiese, ein Stück weit weg von dem Weg, der in den Wald führt, ein Paar große, dreckige Gummistiefel. Normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei.
Kaum jemand.
Doch er wusste, dass sie oft diesen Weg nahm, um in den Wald zu gelangen. Als er damals, vor Wochen, auf der Suche nach ihr die blauen Gummistiefel im kurz geschorenen Gras liegen sah, wusste er, dass er sie bald finden würde. Er hielt kurz inne. Die Schuhe stanken erbärmlich nach Morast und Urin. Er lief weiter, in den Wald hinein.
Von weitem schon sah er ihre schmale Gestalt auf einem Baumstumpf an einer Lichtung sitzen in einem dieser langen, geblümten Nachthemden, wie nur alte Frauen sie tragen. Er näherte sich ihr langsam von der Seite. Sie hatte die Beine vor die Brust gezogen und hielt sie mit ihren Armen umschlungen. Ihr schlohweißes Haar fiel strähnig über die Schultern herab, die Augen hatte sie geschlossen. Ihre Füße lugten unter dem Saum des Nachthemds hervor und er war wieder einmal erstaunt, wie groß die Füße der zierlichen Greisin waren. Leise sang sie ein Lied in einer fremden Sprache und wiegte sich im Rhythmus der melancholischen Melodie. Er wusste, dass sie auf Finnisch sang, der Sprache ihrer Heimat. Sie hatte Finnland als junges Mädchen verlassen, kurz nach dem Lapplandkrieg, weil sie sich in einen deutschen Soldaten verliebt hatte und ihn wiederfinden wollte, koste es, was es wolle. Und in dessen Heimat hatte sie ein neues Zuhause gefunden.
Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, näherte er sich ihr. Als er neben ihr stand, berührte er sanft ihre Schulter und sprach sie an: „Tarja." Sie öffnete die Augen, blinzelte, legte den Kopf schief und lächelte unsicher. „Perttu", wisperte sie, „du bist hier." Wie oft schon hatte sie ihn mit dem Namen ihres Bruders angesprochen, der im Lapplandkrieg gestorben war. Bevor sie seine Patientin wurde, hatte er vom Lapplandkrieg nicht einmal gehört gehabt. Doch ihr ganzes Leben war durch diesen Krieg von Grund auf verändert worden und so hatte er sich damit befasst, damit er ihre wirren Worten und schwindenden Erinnerungen zu einem Bild zusammenfügen und sie besser verstehen konnte.
„Ja, Tarja, ich bin hier", bestätigte er beruhigend. Sie nickte langsam. „Besuchen wir jetzt Onkel Mikko in Salo?", fragte sie. „Ja", erwiderte er. Sie stand auf und Hand in Hand verließen sie den Wald. Doch die alte Frau war erschöpft und so trug er sie ein Stück. Der untere Teil ihres Nachthemds war feucht an seinen Händen, weil sie das Wasser wieder einmal nicht hatte halten können. Deshalb stanken ihre Gummistiefel auch danach. Er beschloss, dass er die Schuhe später holen würde.
Als sie kurz darauf in die Allinger Straße einbogen, wo sie im Heim war, fragte die alte Frau: „Sind wir schon in der Satamakatu?" Er wusste, dass dies die Hafenstraße war, wo der Onkel gewohnt hatte vor vielen, vielen Jahrzehnten. Er nickte.
Nachdem er sie auf ihr Zimmer gebracht hatte, berichtete er der Heimleiterin, dass er Tarja, die —niemand wusste wie— entwischt war, im Wald gefunden hatte. Dem Wald, den sie so liebte, weil er sie an ihre Heimat weit oben im Norden erinnerte. Dem Wald, der in ihrer Erinnerung unauslöschlich war, egal wie sehr die Demenz ihren Geist auch zerfraß.
Einige Zeit später spähte er noch einmal durch die Tür in ihr Zimmer. Sie schlief friedlich und lächelnd. Sie wachte nicht mehr auf.
Die Gummistiefel vergaß er darüber.