Schreibwettbewerb „Gummistiefelweg“

anlässlich des 10-jährigen Bestehens
der Städtepartnerschaft Puchheim – Salo und
des Deutsch-Finnischen Clubs Puchheim

Der Wettbewerb findet parallel in Puchheim und in unserer Partnerstadt Salo in Südfinnland statt.

                                                        

                        Salo                                                                                         Puchheim                                                                                                                                                      

Die Einsendefrist endete am 22. März 2017.

Die Beteiligung war überraschenderweise sehr groß:

108 Geschichten wurden eingesandt.

Diese teilen sich auf nach Altersgruppen:

Erwachsene:                            43 Geschichten
Kinder 6 – 12 Jahre:                44 Geschichten
Jugendliche 13 – 15 Jahre:      21 Geschichten:

Jedes Jurymitglied hat zwischenzeitlich alle Einsendungen in anonymisierter Form gelesen und bewertet.

Der Jury gehören an:

  • Nicola Bräunling, Buchhandlung Bräunling, Puchheim
  • Hariet Paschke, Beirätin für Literatur im Kulturverein Puchheim e.V.
  • Otto Linseisen, Leiter der Stadtbibliothek Puchheim

Am Montag, 22.Mai 2017, hat sich die Jury zur entscheidenden Sitzung getroffen.

Die Würfel sind gefallen                          Alea jacta est                                        Arpa on heitetty

Die große Anzahl der Einsendungen hat den beiden Jurorinnen und dem Juror viel Zeit und eine äußerst gewissenhafte Bewertung abverlangt. Das Ergebnis war dann doch überraschend: Jeder der Juroren hatte aus jeder der drei Gruppen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) jeweils die fünf besten Arbeiten in Reihenfolge ausgewählt. Diese ausgewählten Geschichten stimmten in allen drei Gruppen fast deckungsgleich überein. Diese große Übereinstimmung bei den Siegergeschichten zeugt von der hohen Qualität der ausgewählten Arbeiten.

Und hier sind die Sieger:

Kategorie: Erwachsene
          1. Preis: Lissy Pawelka
          2. Preis: Marion Strencioch
          3. Preis: Stephanie Schiller
          3. Preis: Michael Bloech
          Sonderpreis: Kuno Saatze

Kategorie: Jugendliche
          1. Preis: Svenja Kölsch
          2. Preis: Mardita Harde
          3. Preis: Leonie Herold

 Kategorie: Kinder
          1. Preis: Alicia Dern
          2. Preis: Lina Bayerke
          3. Preis: Maritta Maier
          Sonderpreis: Asenat, Anastasija, Salome, Ronja, Ciara

Die Sieger wurden bei zwei Veranstaltungen ausgezeichnet:
Die Preisverleihung für die Gruppen Kinder und Jugendliche fand statt am Freitag, 30. Juni 2017, in der Staatlichen Realschule Puchheim.
Bei der Preisverleihung für die Erwachsenen, die am Mittwoch, 5. Juli 2017, in der Alten Schule Puchheim-Ort stattfand, haben alle Preisträger ihre Geschichten selbst vorgetragen. Ingeborg Keil, Mitglied des Deutsch-Finnischen Clubs, hat anschließend noch die Siegergeschichten der Jugendlichen und Kinder und einige Geschichten aus der Partnerstadt Salo vorgelesen.

 

Lissy Pawelka

1. Preis - Kategorie: Erwachsene


Mein Freund Mahdi...

Seit Wochen liegen auf einer Wiese, ein Stück weit weg von dem Weg, der in den Wald führt, ein Paar große, dreckige Gummistiefel. Normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei.

Tobbi, mein Foxterrier, hatte sie beim Spaziergang gleich entdeckt und sie heftig verbellt. Ich hatte mich zwar ein wenig gewundert, aber den Vorfall vergessen, bis ich eine Nachricht auf WhatsApp in englischer Sprache erhielt:
„Hi Tom, bin in Frankfurt bei meinem Bruder. Unsere Wette steht: ich bin bereit, und glaube mir, ich werde dich besiegen! Habe jeden Tag auf der Wiese hinter dem Altersheim geübt. Aber eines Tages tauchten plötzlich Leute auf, und ich rannte davon. Leider musste ich die Stiefel zurücklassen. Ich wollte keine peinlichen Fragen riskieren. Das hätte mir sowieso keiner geglaubt ..."

Ich wunderte mich sehr. Mein Freund Mahdi aus dem Irak war einfach abgehauen. Kein Wort davon hatte er mir gesagt vorher. Sicher hatte er Angst gehabt, dass ich es ihm ausreden würde, womit er recht gehabt hätte. Denn er durfte Bayern solange nicht verlassen, bis sein Asylantrag entschieden war. Ich war ziemlich beunruhigt. Welche Konsequenzen würde das für ihn haben? Würde er in Frankfurt bleiben können? Und dann musste ich sehr lachen: trotz aller Probleme hatte mein Freund doch tatsächlich mit dem Stiefel-Weitwerfen angefangen!

Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Er stand mit einer großen rot-blau-karierten Tasche neben meinem Auto am S-Bahn-Parkplatz in Puchheim und fragte mich in gutem Englisch nach der Flüchtlings-Unterkunft. Auf der Fahrt dorthin erzählte er mir dann, dass er 23 Jahre alt und Dolmetscher für Englisch sei und ganz allein aus dem Irak geflohen war. Seine Eltern waren als kritische Journalisten bedroht worden und deshalb mit seinen drei jüngeren Geschwistern in die Türkei geflohen. Sein älterer Bruder hatte es vor einigen Jahren in einer abenteuerlichen Flucht nach Frankfurt geschafft, wo er inzwischen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte. In den folgenden Monaten hatte ich Mahdi mehrmals getroffen, hatte ihm bei all der Bürokratie geholfen, als ich plötzlich von meiner Firma für vier Wochen zu unserer Partnerfirma nach Helsinki geschickt wurde, um eine engere Zusammenarbeit vorzubereiten. Mahdi war sehr schockiert, dass ich so lange weg sein würde, aber ich versicherte ihm, dass wir durch WhatsApp immer in Kontakt bleiben würden.

Und so war es. Fast täglich tauschten wir uns aus. Ganz aufgeregt schrieb er mir einmal, nachdem er - zusammen mit anderen Flüchtlingen - eine Einladung in den Zirkus Krone erhalten hatte. Noch Tage danach schwärmte er davon. Im Gegenzug hatte ich ihm berichtet, was so alles in Finnland los war. So konnte ich bei den sagenhaften Meisterschaften im Gummistiefelwerfen zusehen. Diese Sportart fand ich total witzig, und ich schickte Mahdi ein Foto davon. Er war so begeistert davon, dass er mir vorschlug, wir sollten beide üben und - sobald ich wieder zurück wäre — einen Zweier-Wettkampf veranstalten. Kurz darauf gingen Selfies mit unseren jeweiligen Gummistiefeln hin und her. Ich hatte noch ein Paar im Keller gefunden, Mahdi bekam die seinen von einer alten Dame geschenkt, bei der er einmal pro Woche Deutsch lernen durfte.

Und die ganze Zeit kein Wort über seine Fluchtabsichten. Er hatte mir zwar einmal gesagt, dass er versuchen wollte, sich zu seinem Bruder nach Frankfurt durchzuschlagen, aber ich hatte ihm geraten nichts zu überstürzen und auf die Bewilligung seines Asylantrages zu warten. Als ich dann zurückkam nach Puchheim, erfuhr ich, dass er verschwunden sei, und niemand wüsste wohin.

Heute hat er mich angerufen. Mahdi erzählte mir, er hätte Panik bekommen, weil plötzlich Gerüchte auftauchten, dass immer mehr Asylanträge von Irakern abgelehnt würden. Mit einem Lastwagen sei er nach Frankfurt gekommen. Die letzten Sätze sagte er auf Deutsch: Tom, das Stiefel-Weitwerfen hat mich gerettet. Ich danke dir so sehr. Beim Werfen vergesse ich alle Probleme. Komm Tom, mein Bruder, lass dich von mir besiegen! Ich warte auf dich!

 

Marion Strencioch

2. Preis - Kategorie: Erwachsene

Tarja

Seit Wochen liegen auf einer Wiese, ein Stück weit weg von dem Weg, der in den Wald führt, ein Paar große, dreckige Gummistiefel. Normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei.
Kaum jemand.

Doch er wusste, dass sie oft diesen Weg nahm, um in den Wald zu gelangen. Als er damals, vor Wochen, auf der Suche nach ihr die blauen Gummistiefel im kurz geschorenen Gras liegen sah, wusste er, dass er sie bald finden würde. Er hielt kurz inne. Die Schuhe stanken erbärmlich nach Morast und Urin. Er lief weiter, in den Wald hinein.

Von weitem schon sah er ihre schmale Gestalt auf einem Baumstumpf an einer Lichtung sitzen in einem dieser langen, geblümten Nachthemden, wie nur alte Frauen sie tragen. Er näherte sich ihr langsam von der Seite. Sie hatte die Beine vor die Brust gezogen und hielt sie mit ihren Armen umschlungen. Ihr schlohweißes Haar fiel strähnig über die Schultern herab, die Augen hatte sie geschlossen. Ihre Füße lugten unter dem Saum des Nachthemds hervor und er war wieder einmal erstaunt, wie groß die Füße der zierlichen Greisin waren. Leise sang sie ein Lied in einer fremden Sprache und wiegte sich im Rhythmus der melancholischen Melodie. Er wusste, dass sie auf Finnisch sang, der Sprache ihrer Heimat. Sie hatte Finnland als junges Mädchen verlassen, kurz nach dem Lapplandkrieg, weil sie sich in einen deutschen Soldaten verliebt hatte und ihn wiederfinden wollte, koste es, was es wolle. Und in dessen Heimat hatte sie ein neues Zuhause gefunden.

Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, näherte er sich ihr. Als er neben ihr stand, berührte er sanft ihre Schulter und sprach sie an: „Tarja." Sie öffnete die Augen, blinzelte, legte den Kopf schief und lächelte unsicher. „Perttu", wisperte sie, „du bist hier." Wie oft schon hatte sie ihn mit dem Namen ihres Bruders angesprochen, der im Lapplandkrieg gestorben war. Bevor sie seine Patientin wurde, hatte er vom Lapplandkrieg nicht einmal gehört gehabt. Doch ihr ganzes Leben war durch diesen Krieg von Grund auf verändert worden und so hatte er sich damit befasst, damit er ihre wirren Worten und schwindenden Erinnerungen zu einem Bild zusammenfügen und sie besser verstehen konnte.

„Ja, Tarja, ich bin hier", bestätigte er beruhigend. Sie nickte langsam. „Besuchen wir jetzt Onkel Mikko in Salo?", fragte sie. „Ja", erwiderte er. Sie stand auf und Hand in Hand verließen sie den Wald. Doch die alte Frau war erschöpft und so trug er sie ein Stück. Der untere Teil ihres Nachthemds war feucht an seinen Händen, weil sie das Wasser wieder einmal nicht hatte halten können. Deshalb stanken ihre Gummistiefel auch danach. Er beschloss, dass er die Schuhe später holen würde.

Als sie kurz darauf in die Allinger Straße einbogen, wo sie im Heim war, fragte die alte Frau: „Sind wir schon in der Satamakatu?" Er wusste, dass dies die Hafenstraße war, wo der Onkel gewohnt hatte vor vielen, vielen Jahrzehnten. Er nickte.

Nachdem er sie auf ihr Zimmer gebracht hatte, berichtete er der Heimleiterin, dass er Tarja, die —niemand wusste wie— entwischt war, im Wald gefunden hatte. Dem Wald, den sie so liebte, weil er sie an ihre Heimat weit oben im Norden erinnerte. Dem Wald, der in ihrer Erinnerung unauslöschlich war, egal wie sehr die Demenz ihren Geist auch zerfraß.

Einige Zeit später spähte er noch einmal durch die Tür in ihr Zimmer. Sie schlief friedlich und lächelnd. Sie wachte nicht mehr auf.

Die Gummistiefel vergaß er darüber.

 

Stephanie Schiller

3. Preis - Kategorie: Erwachsene

„Gummistiefelweg"

Seit Wochen liegen auf einer Wiese, ein Stück weit weg von dem Weg, der in den Wald führt, ein Paar große, dreckige Gummistiefel. Normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei, die Stelle ist abgeschieden und auch ich kenne sie nur, weil mich die täglichen Gassirunden mit meinem Hund Lex daran vorbeiführen. Wir genießen beide die absolute Ruhe und Menschenleere in diesem Teil des Naturschutzgebietes.

Das erste Entdecken der Stiefel verwunderte mich zwar, jedoch maß ich ihnen erst einmal keine allzu große Bedeutung bei, obgleich ich es schon sehr seltsam fand. Als das Stiefelpaar aber nach Wochen noch immer und scheinbar unberührt in der Wiese lag, überkam mich die Neugier nach deren Herkunft und der Bewandtnis ihres Zurücklassens. Ich konnte nicht umhin, die beiden Schuhe gründlicher in Augenschein zu nehmen, denn es hatten sich unzählige Fragen bei meinen zwischenzeitlichen Spaziergängen aufgetan, Gedankenspiele in alle Richtungen entwickelt. Eines glaubte ich sicher zu wissen, es handelte sich wohl um das Schuhwerk eines Trägers und nicht um das einer Trägerin, zumindest unterstellte ich das bei der deutlich sichtbaren Beschriftung mit der Zahl 49 auf der Sohle. Aber wer genau war der Mann, warum war er hier und vor allem, warum entledigte er sich der Gummistiefel, gerade jetzt im nasskalten März, wahrlich keine Zeit, um den Weg barfuß weiter zu gehen. War ich womöglich einem Verbrechen auf der Spur? Hätte ich nicht schon längst die Polizei einschalten müssen, habe ich womöglich durch meine Neugier spurenrelevante Hinweise vernichtet? Hatte ich mich selbst durch das Unterlassen einer zeitnahen Meldung strafbar gemacht?

Allen negativen Gedanken zum Trotz beschloss ich, mir die Stiefel jetzt ganz genau anzusehen, wenn ich mich tatsächlich etwas schuldig gemacht hatte, dann bräuchte ich jetzt auch nicht in blinden Aktionismus verfallen, beruhigte ich mich selbst und mein doch etwas schlechtes Gewissen.

Ich hob die Stiefel auf und betrachtete sie mir von außen mit penibler Sorgfalt; es waren handelsübliche, einfache, dunkelgrüne Exemplare, die bisher wohl selten getragen wurden, zumindest entnahm ich diese Tatsache den fast noch neu wirkenden Sohlen. Doch beim tieferen Griff in den rechten Stiefelschaft spürte ich etwas Unerwartetes, erschrocken ließ ich den Stiefel erst einmal fallen, um ihn kurz darauf mittels eines Holzstöckchens, welches mir just in diesem Augenblick mein Lex eigentlich zum Spielen aus dem naheliegenden Waldstück gebracht hatte, wieder anzuheben. Ich führte den hölzernen Stock in den Stiefelschacht und schob so den Stiefel senkrecht nach oben. Der vorher gespürte Inhalt fiel in die Wiese und ich staunte nicht schlecht: Ein Brief, geschützt - wohl vor Nässe - in einer Klarsichthülle verpackt und ein kleiner, silbern glänzender Schmuckanhänger in Form eines Engels kamen zum Vorschein. Sollte ich den Brief nun tatsächlich lesen? Ganz offensichtlich war dieser ja nicht an mich adressiert.

Ich konnte nicht anders und begann mit der Lektüre, da stand in gut lesbarer Schreibschrift: An den Finder dieser Stiefel; es macht mich glücklich, dass du dir trotz der Abgeschiedenheit des Fundortes ganz offensichtlich die Mühe gemacht hast, meine Stiefel zu inspizieren. Vielleicht hat es eine Weile gedauert, bis du diese Zeilen gefunden hast, wahrscheinlich hast du dir auch Gedanken darüber gemacht, warum diese Stiefel ausgerechnet hier liegen, wer sie wohl an diese Stelle verbracht hat und so vieles mehr. Du möchtest sicher wissen, was es mit diesen Fundstücken auf sich hat. Gerne will es dir gerne erklären: Diese Stiefel sind Teil eines Experimentes, welches ich im November 2016 begonnen habe. Angesichts des immer oberflächlicher und egoistischer werdenden Umgangs, den wir Menschen miteinander „pflegen", möchte ich mit ganz alltäglichen Dingen, die ich mehr oder weniger offensichtlich platziere, ermitteln, ob und wenn ja, welche Beachtung diesen geschenkt wird. Da du diesen Brief liest, bist du offensichtlich ein Mensch, der sich für seine Umwelt interessiert und vielleicht sogar weit darüber hinaus auch um das Wohl anderer. Aus diesem Grund habe ich dir einen kleinen Engel als „Finderlohn" zu diesem Brief gepackt. Möge er so auf dich achten, wie du es offenbar auf Veränderungen in deiner Umgebung und auf andere Menschen tust. Wenn du magst, rufe mich doch bitte an und erzähle mir DEINE Geschichte der Gummistiefel. Du erreichst mich telefonisch unter +49 12345. Ich bin sehr gespannt und freue mich schon - während ich diesen „Finderbrief verfasse - sehr auf deinen Anruf. Herzlichst Maximilian

Da stand ich nun und war den Tränen nahe. Einerseits, weil mir ein großer Stein vom Herzen gefallen war, dass sich meine trüben Gedanken hinsichtlich eines Verbrechens nicht bewahrheitet hatten, andererseits, war ich übermannt von Maximilians großartiger Idee. Ich drückte meinen Lex, der noch immer wartend neben mir stand, warf ihm das Stöckchen zum Spiel und schob Brief samt Engel in meine Jackentasche wohlwissend, dass ich Maximilian umgehend anrufen würde. Und die Gummistiefel? Die werde ich mit einem Finderbrief und einem Engelsanhänger neu befüllen und irgendwo ganz „zufällig" liegen lassen......

 

Michael Bloech

3. Preis - Kategorie: Erwachsene

Die Stiefel

Am Böhmerweiher, vor den Toren Puchheims, in den frühen Morgenstunden: Vor dem kleinen Wäldchen, über der kleinen Lichtung, die von einem verschlungenen Trampelpfad durchzogen wird, liegt majestätisch eine schwebende, mäandernde dünne Nebelbank, ein dampfender, virtueller See. Wenn die ersten Sonnenstrahlen auf dieses fragile Gebilde treffen, beginnt das faszinierende Spiel der magischen Transformation, das schließlich in der vollständigen Auflösung mündet.

Die Frau hat heute genau diesen Ort gewählt, genau in diesen Morgenstunden, um Teil dieses grandiosen Schauspiels zu werden. Schon seit langer Zeit war sie nicht mehr hier gewesen, zu eingespannt, getrieben und gesteuert von Terminen, hatte sie bislang schlichtweg einfach keine Zeit. Ein wenig erinnert sie die ruhige, mystische Stimmung an einen Urlaub, den sie vor einigen Jahren auf dem Land in der Nähe des finnischen Ortes Salo verbracht hat. Heute ganz in der Früh hat jemand abgesagt und so nutzt sie die unverhofft freie Stunde, um noch vor ihrer so geliebten Arbeit, ein wenig frische Luft zu tanken. Als sie in der Mitte des kleinen Weges angelangt ist, entdeckt sie im feuchten Gras die scheinbar achtlos liegengeblieben Gummistiefel. Ein französisches Fabrikat für professionelle Anwendungen. Es handelt sich dabei nicht um die in Billigdiscountern angebotene Massenware, hastig hergestellt mit begrenztem Haltbarkeitsdatum. Sie hebt die Stiefel vorsichtig an und betrachtet zunächst eindringlich die Sohlen, wobei sie nicht nur feststellt, dass es sich um Stiefel der beeindruckenden Größe Nummer 48 handelt, sondern auch, dass im linken Schuh, an der Innenseite im Bereich des großen Zehs, die Sohle stark abgelaufen ist. Außerdem deutet sich durch die kleine rundliche Verformung des Obermaterials am rechten Schuh, ein beginnender Hallux valgus an. Bei diesem Schiefstand des Großzehs werden die Sehnen, die über die Gelenke zu dem Großzeh eigentlich direkt verlaufen sollen, dummerweise seitlich am Gelenk vorbei gezogen. Durch diesen Fehler wird nicht nur der Großzeh nach innen gebogen, was oft zu schmerzhaften Hühneraugen führt, sondern gleichzeitig tritt ästhetisch unattraktiv der Großzehenballen weit nach außen, was ebenfalls Schmerzen impliziert. Das unelegante Verformen des betreffenden Schuhs ist dabei noch das kleinere Übel.

Beherzt greift sie nun in den feuchten linken Stiefel und findet ihre Vermutung bestätigt, es sind keine Einlagen vorhanden. Außerdem ist das lustige, schottenkarierte Innenfutter im vorderen Zehen- und auch im Fersenbereich extrem stark abgenutzt. Der Mann, der diese, für ihn zu kleinen Stiefel einmal getragen hat, muss generell einige Probleme bei der Fortbewegung gehabt haben.
Wahrscheinlich hat er beim Gehen mit den Gummistiefeln schließlich so schlimme Schmerzen bekommen, dass er sie vor Wut entnervt weggeschmissen hat und lieber einfach barfuß weitergegangen ist.

Sorgsam führt sie nun den rechten Stiefel, mit der für sie äußerst verlockenden Schaftöffnung, in Richtung Nase und nimmt eine erste, sehr vorsichtige Geruchsprobe. Zunächst bemerkt sie eine stark käsige Note und versucht durch intensiveres, olfaktorisches Prüfen die Komponenten ein wenig genauer heraus zu destillieren. Verursacht durch ein kongeniales Zusammenspiel von Schweiß, abgestorbenen Hautzellen und fleißigen Bakterien besteht Fußgeruch bekanntlich aus drei Bestandteilen, die alle zusammen ihre einzigartige, beeindruckende Wirkung entfalten. Zunächst einmal wäre hier das Gas Methanthiol zu nennen, das im Geruch an verfaultes Gemüse erinnert, dann die Isovaleriansäure mit der starken Baldrian-und intensiven Weichkäsenote und last but not least die gute alte Propionsäure, der ein stechender Geruch in Richtung Hartkäse nachgesagt wird. Schnell wird klar, dass ihr aus dem Stiefel ein interessanter Mix aus verfaultem, leicht schimmeligen Brokkoli, überreifem Limburger Weichkäse und einer zarten Note von ranzigem Allgäuer Emmentaler entgegen wabert. So einen bemerkenswerten Fußgeruch hat in ganz Puchheim nur ein Einziger - sie kennt ihre Kundschaft doch ganz genau. Behände packt sie die Gummistiefel und wird sie ihrem Patienten direkt nach Hause bringen. So ist sie einfach: Die wahrscheinlich beste Podologin zwischen Oberbayern und Süd-Finnland.

 

Kuno Saatze  (alias: Rentner K.)

Sonderpreis - Kategorie: Erwachsene

Gummistiefelweg.

"Seit Wochen liegen auf einer Wiese, ein Stück weit weg vom Weg, der in den Wald führt, ein Paar große, dreckige Gummistiefel. Normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei.
Warum die Stiefel wohl hier liegen?
Wie sind sie hergekommen?"....

Das fragte sich auch der Rentner K., der nach längerem Unwohlseins erstmals wieder seinen obligatorischen, morgendlichen Spaziergang zum Wald machte. Er nahm die Abkürzung vom Waldweg über die Wiese zum Parsberg hinauf und sah dort im Gras ein Paar große, dreckige Gummistiefel liegen.

Er konnte sich nicht erklären, wie sie hier her gekommen sein konnten. Denn weit und breit waren keine Spuren in der Wiese nach der Herbstmahd zu sehen. Zwar hatte er davon gehört, dass in der Stadt hinter dem Wald ein Wettbewerb im Gummistiefelweitwerfen stattgefunden hatte. Damit sowie mit anderen, urigen und kuriosen finnischen Spielen wollte der Deutsch-Finnische Club dort die Städtepartnerschaft mit der Finnischen Stadt Salo unterstützen und bekannter machen.

Aber Gummistiefel so weit zu werfen, das konnte er sich nicht vorstellen. Und dass Gummistiefel Flügel bekommen, das wünschen sich nur ehrgeizige Gummistiefelwerfer beim Wettkampf.

Zum Mitnehmen waren ihm die Stiefel viel zu dreckig und schwer. Also machte er sich auf den Heimweg und weiterhin verzweifelt Gedanken über die Herkunft der Stiefel.

Zuhause beim ersten Blick auf die heimatliche Tageszeitung sah er die Lösung. In einem Zeitungsartikel wurde mit einem inspirierenden Foto zufällig auf einen Schreibwettbewerb "Gummistiefelweg" des Deutsch-Finnischen Clubs hingewiesen. Das Foto zeigte genau das Paar Stiefel, wie er es vorher beim Spaziergang gesehen hatte.
Er vermutete, der Fotograf hat sie für das inspirierende Foto dort hingelegt und wohl einfach - weil dreckig und schwer - dort liegen gelassen, denn er hatte das gewünschte Bild bestimmt sicher im Kasten.

Mit dieser Erkenntnis setzte sich Rentner K. an seinen PC, kopierte den Beginn der Geschichte aus den Webseiten der Städtepartnerschaft Salo - Puchheim (http://puchheim-salo.eu) heraus und begann seine Schreibe für den Wettbewerb:

Das fragte sich auch der Rentner K., ... bitte oben im zweiten Absatz weiterlesen.

 

Svenja Kölsch

1. Preis - Kategorie: Jugendliche


Gümmistiefelweg


Es war Anfang November und die Tage wurden zunehmend kälter, als auf einem Weg, der in einen kleinen Wald führte ein Paar dreckiger, abgewetzter, grauer Gummistiefel lag. Sie schienen unbeachtet hingeworfen worden zu sein und ein eisiger Wind pfiff über sie hinweg. Ein Schwarm Krähen erhob sich krächzend aus einigen knorrigen Bäumen in die Lüfte, als ein weiterer Windstoß das leise Stapfen von kleinen Schuhen heran trug. Das Geräusch wurde immer lauter, bis ein junges Mädchen in Sichtweite kam. Maries Wangen waren feucht von Tränen und ihre Augen vom vielen Weinen gerötet. Als sie die Gummistiefel entdeckte, wurden ihre Schritte immer schneller, bis sie schließlich in einen hastigen Laufschritt verfiel. Als Marie die alten Schuhe erreichte, starrte sie die Gummistiefel mit ihren verweinten Augen an und sofort bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Sie wusste noch genau, wie sie selbst die Gummistiefel vor einigen Tagen hier her gebracht hatte:

Es war ein Tag wie jeder andere auch gewesen, zumindest schien das so. Die Sonne hatte geschienen und einige Bäume hatten noch ihr buntes Blätterkleid getragen. Doch für Marie war der Tag grau gewesen, ein tristes grau, nicht einmal eines mit verschiedenen Schattierungen, seit ihre Mutter in der Früh zu ihr ins Zimmer gekommen war und sie in den Arm genommen hatte. Sie hatte kraftlos geflüstert: "Es ist vorbei, es geht ihm jetzt besser." Marie hatte sofort gewusst, was das bedeutete. Ihr Opa hatte Krebs gehabt. Mit "es geht ihm jetzt besser" hatte ihre Mütter gemeint, dass er jetzt im Himmel war. Obwohl der Tod ihres Opas vorhersehbar gewesen war, war Marie wie erstarrt und stumm in den Armen ihrer Mutter gehangen und hatte nicht einmal weinen können. Erst hatte sie sich leer gefühlt, doch dann breitete sich rasch anschwellende Wut in ihr aus. Wut auf ihre Mutter, weil sie ihr die Nachricht vom Tod ihres Opas überbracht hatte. Wut auf sich selbst, weil sie nichts an seinem Tod ändern konnte. Und vor allem Wut auf ihren Opa, weil er sie alleine zurückgelassen hatte. Sie wollte schreien, doch sie hatte nicht mehr als ein heiseres Krächzen herausbekommen. Statt dessen hatte sie sich wie ferngesteuert erhoben und war losgelaufen.

Die Welt um sie herum war verschwommen. Als sie schließlich stehen geblieben war, stand sie vor dem Haus ihres Opas. Ihr tränenverschleierter Blick war durch den ihr gut vertrauten Garten gewandert, und schließlich an den grauen Gummistiefeln ihres Opas hängengeblieben. Marie musste unwillkürlich an die langen Spaziergänge denken, die sie oft zusammen unternommen hatten und bei denen er jedes Mal seine Gummistiefel wie er sagte "spazierengetragen" hatte. Augenblicklich war ihre Wut verflogen. Marie hatte sich in diesem Moment nichts sehnlicher gewünscht, als mit ihrem Opa noch einmal einen solchen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen. Die Tatsache, dass es einen solchen Spaziergang nie wieder geben würde, ließ einen grellen Schmerz in ihrem Inneren auflodern. Tränen waren ihr das Gesicht hinuntergelaufen. Da hatte sie nach den Gummistiefeln gegriffen und war wieder losgelaufen. Dieses Mal jedoch hatte sie ihr Ziel gekannt: Den schmalen Weg vor dem Wald...

Marie musste blinzeln, um die Tränen abzuhalten, die sie bei dieser Erinnerung zu überwältigen drohten.
Sie setzte sich neben die Gummistiefel. Marie schloss die Augen und sog den frischen Moosgeruch in sich auf. Vor ihrem inneren Auge sah sie all die Dinge, die sie und ihren Opa durch die Gummistiefel verbanden. Sie öffnete die Augen wieder und zog ihre Schuhe aus. Statt dessen zog sie Die Gummistiefel an. Sie waren Marie viel zu groß, doch das störte sie nicht im Geringsten. Von Wut oder Trauer spürte Marie nichts mehr. Statt dessen merkte sie, wie eine tiefe Ruhe in ihr aufstieg. Und sie versprach: „ Ich gehe für uns beide spazieren, Opa!"
Sie machte sich auf den Weg in Richtung Wald. Und während sie am Waldrand entlangging, hatte sie immer mehr das Gefühl, das Ihr Opa ganz nah bei ihr war....

 

Mardita Harde

2. Platz - Kategorie: Jugendliche

Gummistiefel

Ich rannte schneller. Mein Herz raste und mein Atem beschleunigte sich. Seine Schritte kamen immer näher, immer unerbittlicher kam er näher. Ich brach durch das Gestrüpp, hinaus aus dem Wald, weg vom Weg. Zweige peitschten mir ins Gesicht und ich spürte schon die roten Striemen in meinem Gesicht, die bleiben würden. Völlig in Gedanken wurde ich langsamer. Seine Schritte kamen bedrohlich näher und ein letztes Mal beschleunigte ich. Ich rannte auf die Wiese. Plötzlich geriet ich ins Straucheln. "Diese verdammten Schuhe! ', dachte ich. Schnell kniff ich die Augen zu, versuchte meinen Kopf zu schützen, wenn ich fallen würde. Da packte er mich, doch mein Schwung war zu groß, sodass ich gemeinsam mit ihm ins Gras fiel. Die Schuhe rutschten mir von den Füßen und flogen in hohem Bogen auf die andere Seite der Wiese. Ich öffnete die Augen. Er sah mich an. „Ätsch! ", rief ich. Dann lachte ich ihm in sein Gesicht. Seine Augen wurden groß, so groß, dass ich nur noch mehr lachen musste. Jetzt stürzte er sich auf mich. Er kitzelte mich durch. „ Aufhören Caleb bitte!!" prustete ich. Doch er machte weiter. Er kitzelte mich so lange durch, bis ich vor Lachen fast erstickte. „Caleb ehrlich! Ich kann nicht mehr!". Caleb hörte auf. Erschöpft sank ich ins Gras. „ Was wolltest du eigentlich mit meinen Gummistiefeln?". Langsam schloss ich meine Augen. „Ich weiß nicht, eigentlich wollte ich nur hier hin mit dir, aber du warst ja beschäftigt mit Abwaschen“. Meine
Stimme war rau, wegen dem ganzen Lachen. Durch meine geschlossenen Augen blendete die Sonne. Die Wärme ging durch meinen ganzen Körper. Ich richtete mich wieder auf und stützte mich auf meine Arme. Dann blinzelte ich durch meine halbgeschlossenen Augen zu ihm hoch. „Caleb?", fragte ich leise. „Ja Schatz?". „Ich liebe dich.", „Ich dich auch Jamie". Ich stand auf und ging auf ihn zu. Er umarmte mich und ich schlang meine Arme um seinen Hals. Schließlich lockerte er unsere Umarmung, so dass ich ihn anschauen konnte. Ich schloss meine Augen und er kam mir näher. Sein Atem streifte meine Lippen. Dann, endlich schloss er die restliche Lücke zwischen uns und küsste mich. Der Moment war perfekt.

„Willst du nicht deine Gummistiefel mit nehmen?" fragte ich als wir aufbrechen wollten. „Nein, weil wir vielleicht mal wieder hier her kommen und dann erinnern wir uns an diesen Tag." Ich kicherte kurz, nahm seine Hand und wir liefen dem Sonnenuntergang entgegen.