Michael Bloech
3. Preis - Kategorie: Erwachsene
Die Stiefel
Am Böhmerweiher, vor den Toren Puchheims, in den frühen Morgenstunden: Vor dem kleinen Wäldchen, über der kleinen Lichtung, die von einem verschlungenen Trampelpfad durchzogen wird, liegt majestätisch eine schwebende, mäandernde dünne Nebelbank, ein dampfender, virtueller See. Wenn die ersten Sonnenstrahlen auf dieses fragile Gebilde treffen, beginnt das faszinierende Spiel der magischen Transformation, das schließlich in der vollständigen Auflösung mündet.
Die Frau hat heute genau diesen Ort gewählt, genau in diesen Morgenstunden, um Teil dieses grandiosen Schauspiels zu werden. Schon seit langer Zeit war sie nicht mehr hier gewesen, zu eingespannt, getrieben und gesteuert von Terminen, hatte sie bislang schlichtweg einfach keine Zeit. Ein wenig erinnert sie die ruhige, mystische Stimmung an einen Urlaub, den sie vor einigen Jahren auf dem Land in der Nähe des finnischen Ortes Salo verbracht hat. Heute ganz in der Früh hat jemand abgesagt und so nutzt sie die unverhofft freie Stunde, um noch vor ihrer so geliebten Arbeit, ein wenig frische Luft zu tanken. Als sie in der Mitte des kleinen Weges angelangt ist, entdeckt sie im feuchten Gras die scheinbar achtlos liegengeblieben Gummistiefel. Ein französisches Fabrikat für professionelle Anwendungen. Es handelt sich dabei nicht um die in Billigdiscountern angebotene Massenware, hastig hergestellt mit begrenztem Haltbarkeitsdatum. Sie hebt die Stiefel vorsichtig an und betrachtet zunächst eindringlich die Sohlen, wobei sie nicht nur feststellt, dass es sich um Stiefel der beeindruckenden Größe Nummer 48 handelt, sondern auch, dass im linken Schuh, an der Innenseite im Bereich des großen Zehs, die Sohle stark abgelaufen ist. Außerdem deutet sich durch die kleine rundliche Verformung des Obermaterials am rechten Schuh, ein beginnender Hallux valgus an. Bei diesem Schiefstand des Großzehs werden die Sehnen, die über die Gelenke zu dem Großzeh eigentlich direkt verlaufen sollen, dummerweise seitlich am Gelenk vorbei gezogen. Durch diesen Fehler wird nicht nur der Großzeh nach innen gebogen, was oft zu schmerzhaften Hühneraugen führt, sondern gleichzeitig tritt ästhetisch unattraktiv der Großzehenballen weit nach außen, was ebenfalls Schmerzen impliziert. Das unelegante Verformen des betreffenden Schuhs ist dabei noch das kleinere Übel.
Beherzt greift sie nun in den feuchten linken Stiefel und findet ihre Vermutung bestätigt, es sind keine Einlagen vorhanden. Außerdem ist das lustige, schottenkarierte Innenfutter im vorderen Zehen- und auch im Fersenbereich extrem stark abgenutzt. Der Mann, der diese, für ihn zu kleinen Stiefel einmal getragen hat, muss generell einige Probleme bei der Fortbewegung gehabt haben.
Wahrscheinlich hat er beim Gehen mit den Gummistiefeln schließlich so schlimme Schmerzen bekommen, dass er sie vor Wut entnervt weggeschmissen hat und lieber einfach barfuß weitergegangen ist.
Sorgsam führt sie nun den rechten Stiefel, mit der für sie äußerst verlockenden Schaftöffnung, in Richtung Nase und nimmt eine erste, sehr vorsichtige Geruchsprobe. Zunächst bemerkt sie eine stark käsige Note und versucht durch intensiveres, olfaktorisches Prüfen die Komponenten ein wenig genauer heraus zu destillieren. Verursacht durch ein kongeniales Zusammenspiel von Schweiß, abgestorbenen Hautzellen und fleißigen Bakterien besteht Fußgeruch bekanntlich aus drei Bestandteilen, die alle zusammen ihre einzigartige, beeindruckende Wirkung entfalten. Zunächst einmal wäre hier das Gas Methanthiol zu nennen, das im Geruch an verfaultes Gemüse erinnert, dann die Isovaleriansäure mit der starken Baldrian-und intensiven Weichkäsenote und last but not least die gute alte Propionsäure, der ein stechender Geruch in Richtung Hartkäse nachgesagt wird. Schnell wird klar, dass ihr aus dem Stiefel ein interessanter Mix aus verfaultem, leicht schimmeligen Brokkoli, überreifem Limburger Weichkäse und einer zarten Note von ranzigem Allgäuer Emmentaler entgegen wabert. So einen bemerkenswerten Fußgeruch hat in ganz Puchheim nur ein Einziger - sie kennt ihre Kundschaft doch ganz genau. Behände packt sie die Gummistiefel und wird sie ihrem Patienten direkt nach Hause bringen. So ist sie einfach: Die wahrscheinlich beste Podologin zwischen Oberbayern und Süd-Finnland.