Svenja Kölsch
1. Preis - Kategorie: Jugendliche
Gümmistiefelweg
Es war Anfang November und die Tage wurden zunehmend kälter, als auf einem Weg, der in einen kleinen Wald führte ein Paar dreckiger, abgewetzter, grauer Gummistiefel lag. Sie schienen unbeachtet hingeworfen worden zu sein und ein eisiger Wind pfiff über sie hinweg. Ein Schwarm Krähen erhob sich krächzend aus einigen knorrigen Bäumen in die Lüfte, als ein weiterer Windstoß das leise Stapfen von kleinen Schuhen heran trug. Das Geräusch wurde immer lauter, bis ein junges Mädchen in Sichtweite kam. Maries Wangen waren feucht von Tränen und ihre Augen vom vielen Weinen gerötet. Als sie die Gummistiefel entdeckte, wurden ihre Schritte immer schneller, bis sie schließlich in einen hastigen Laufschritt verfiel. Als Marie die alten Schuhe erreichte, starrte sie die Gummistiefel mit ihren verweinten Augen an und sofort bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Sie wusste noch genau, wie sie selbst die Gummistiefel vor einigen Tagen hier her gebracht hatte:
Es war ein Tag wie jeder andere auch gewesen, zumindest schien das so. Die Sonne hatte geschienen und einige Bäume hatten noch ihr buntes Blätterkleid getragen. Doch für Marie war der Tag grau gewesen, ein tristes grau, nicht einmal eines mit verschiedenen Schattierungen, seit ihre Mutter in der Früh zu ihr ins Zimmer gekommen war und sie in den Arm genommen hatte. Sie hatte kraftlos geflüstert: "Es ist vorbei, es geht ihm jetzt besser." Marie hatte sofort gewusst, was das bedeutete. Ihr Opa hatte Krebs gehabt. Mit "es geht ihm jetzt besser" hatte ihre Mütter gemeint, dass er jetzt im Himmel war. Obwohl der Tod ihres Opas vorhersehbar gewesen war, war Marie wie erstarrt und stumm in den Armen ihrer Mutter gehangen und hatte nicht einmal weinen können. Erst hatte sie sich leer gefühlt, doch dann breitete sich rasch anschwellende Wut in ihr aus. Wut auf ihre Mutter, weil sie ihr die Nachricht vom Tod ihres Opas überbracht hatte. Wut auf sich selbst, weil sie nichts an seinem Tod ändern konnte. Und vor allem Wut auf ihren Opa, weil er sie alleine zurückgelassen hatte. Sie wollte schreien, doch sie hatte nicht mehr als ein heiseres Krächzen herausbekommen. Statt dessen hatte sie sich wie ferngesteuert erhoben und war losgelaufen.
Die Welt um sie herum war verschwommen. Als sie schließlich stehen geblieben war, stand sie vor dem Haus ihres Opas. Ihr tränenverschleierter Blick war durch den ihr gut vertrauten Garten gewandert, und schließlich an den grauen Gummistiefeln ihres Opas hängengeblieben. Marie musste unwillkürlich an die langen Spaziergänge denken, die sie oft zusammen unternommen hatten und bei denen er jedes Mal seine Gummistiefel wie er sagte "spazierengetragen" hatte. Augenblicklich war ihre Wut verflogen. Marie hatte sich in diesem Moment nichts sehnlicher gewünscht, als mit ihrem Opa noch einmal einen solchen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen. Die Tatsache, dass es einen solchen Spaziergang nie wieder geben würde, ließ einen grellen Schmerz in ihrem Inneren auflodern. Tränen waren ihr das Gesicht hinuntergelaufen. Da hatte sie nach den Gummistiefeln gegriffen und war wieder losgelaufen. Dieses Mal jedoch hatte sie ihr Ziel gekannt: Den schmalen Weg vor dem Wald...
Marie musste blinzeln, um die Tränen abzuhalten, die sie bei dieser Erinnerung zu überwältigen drohten.
Sie setzte sich neben die Gummistiefel. Marie schloss die Augen und sog den frischen Moosgeruch in sich auf. Vor ihrem inneren Auge sah sie all die Dinge, die sie und ihren Opa durch die Gummistiefel verbanden. Sie öffnete die Augen wieder und zog ihre Schuhe aus. Statt dessen zog sie Die Gummistiefel an. Sie waren Marie viel zu groß, doch das störte sie nicht im Geringsten. Von Wut oder Trauer spürte Marie nichts mehr. Statt dessen merkte sie, wie eine tiefe Ruhe in ihr aufstieg. Und sie versprach: „ Ich gehe für uns beide spazieren, Opa!"
Sie machte sich auf den Weg in Richtung Wald. Und während sie am Waldrand entlangging, hatte sie immer mehr das Gefühl, das Ihr Opa ganz nah bei ihr war....